Blick auf ein tiefes, subglaziales Tal unter dem antarktischen Eisschild. Solche Landschaften könnten seit über 30 Millionen Jahren unberührt sein. (Symbolbild – exemplarisch)
Ostantarktis – Eine Entdeckung von globaler Tragweite: Unter dem kilometerdicken Eisschild der Antarktis schlummern verborgene Landschaften, die seit über 30 Millionen Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen haben. Forscher haben nun Hinweise auf uralte Flusssysteme, Gebirgsketten und sogar Mikroorganismen gefunden, die unser Verständnis vom antarktischen Kontinent grundlegend verändern.
Ein verlorenes Land unter dem Eis
Mitten in der unwirtlichen Weite Ostantarktikas hat ein internationales Forschungsteam mithilfe von Radartechnologie eine verborgene Welt aufgedeckt. Über eine Distanz von mehr als 3.500 Kilometern zieht sich ein Netz urzeitlicher Flusslandschaften durch die Tiefe des antarktischen Kontinents – eine geologische Formation, die vor etwa 80 Millionen Jahren entstand, bevor sich die Antarktis von Australien trennte. Die Eisschicht, die diese Landschaften bedeckt, ist an vielen Stellen mehr als drei Kilometer dick.
Die Forscher gehen davon aus, dass diese Flusssysteme vor etwa 34 Millionen Jahren, kurz vor der vollständigen Vergletscherung des Kontinents, aktiv waren. Seitdem sind sie durch die massive Eisdecke konserviert – eine Art geologische Zeitkapsel, die Hinweise auf ein längst vergangenes Ökosystem geben könnte.
Wie entstehen subglaziale Landschaften?
Unter der Antarktis befinden sich nicht nur Ebenen und Flüsse, sondern auch ganze Gebirge. Besonders spektakulär ist das sogenannte Gamburtsev-Gebirge, das mit Gipfeln von bis zu 3.400 Metern als das „Himalaya unter dem Eis“ gilt. Es entstand vermutlich durch tektonische Bewegungen lange vor der heutigen Eiszeit. Die tiefer liegenden Flächen zwischen diesen Bergen wurden einst von Flüssen durchzogen – das legen Analyseergebnisse von Radar- und Satellitendaten nahe.
Subglaziale Landschaften entstehen durch eine Kombination aus geologischer Aktivität, Erosion, und der Wirkung von Wasserläufen. Auch nach der Vergletscherung hat subglaziales Wasser einen erheblichen Einfluss auf die Landschaftsform – es fließt durch Kanäle, sammelt sich in Seen und modelliert kontinuierlich das Gestein unter dem Eis.
Existieren unter dem Eis Flüsse und Seen?
Ja, unter dem Eisschild fließen tatsächlich Flüsse – einige davon über hunderte Kilometer hinweg. Einer dieser Flüsse wurde als ein 290 Meilen (rund 470 Kilometer) langer unterirdischer Wasserstrom identifiziert, der sich unter dem antarktischen Eis in Richtung Küste bewegt. Diese Flüsse sind hochgradig unter Druck stehend und können das Verhalten des Eisschildes massiv beeinflussen.
Darüber hinaus gibt es laut aktuellen Zählungen über 400 bekannte subglaziale Seen in der Antarktis. Der bekannteste ist der Lake Vostok, der unter einer vier Kilometer dicken Eisschicht liegt und eine Fläche von etwa 12.500 Quadratkilometern umfasst. Weitere bedeutende Seen sind Lake Whillans und Lake Ellsworth, die ebenfalls als Ziele wissenschaftlicher Bohrungen dienen.
Ein Ökosystem im Verborgenen
Besonders faszinierend: In einigen dieser subglazialen Seen wurden Spuren von Leben gefunden. Beim WISSARD-Projekt wurden aus Lake Whillans Wasserproben entnommen, die über 3.900 verschiedene Mikroorganismen enthielten. Diese Mikroben leben unter extremen Bedingungen – ohne Licht, bei Minusgraden und unter hohem Druck. Sie ernähren sich nicht von Sonnenenergie, sondern gewinnen Energie durch Chemosynthese, etwa aus dem Abbau von Eisen oder Sulfaten.
Damit ist bewiesen: Leben kann selbst unter den unwirtlichsten Bedingungen gedeihen. Das weckt auch neue Hoffnungen in der Astrobiologie – etwa für die Suche nach Leben auf Jupiters Eismond Europa.
Wie beeinflussen diese Landschaften den Eisschild?
Die Entdeckung dieser Strukturen hat nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch praktischen Wert. Die Landschaftsform unter dem Eis beeinflusst maßgeblich, wie schnell sich das Eis bewegt. Glatte Ebenen führen zu langsamem Gletscherfluss, während tiefe Täler als Kanäle für beschleunigtes Abschmelzen dienen können.
Besonders wichtig sind sogenannte „Ankerzonen“ – flache, stabile Bereiche, die den Eisschild an Ort und Stelle halten. Wenn diese verschwinden, könnte sich das Eis deutlich schneller Richtung Küste und Ozean bewegen – mit potenziell dramatischen Folgen für den globalen Meeresspiegel.
Können Vulkane unter dem Eis das Schmelzen beschleunigen?
Auch subglaziale Vulkane tragen zum Schmelzen des Eises bei. Im Hudson-Gebirge im Westen der Antarktis wurde ein Vulkanausbruch nachgewiesen, der vor etwa 2.200 Jahren stattfand – unter einer kilometerdicken Eisschicht. Solche Ereignisse können sogenannte Jökulhlaups auslösen: abrupte Schmelzwasserfluten, die sich mit hoher Geschwindigkeit durch das Eis bewegen und massive Schäden verursachen können.
Ein archäologisches Klimaarchiv
Die entdeckten Landschaften sind nicht nur von geologischer Bedeutung, sondern könnten auch als Klimazeugen fungieren. Erste Sedimentanalysen deuten darauf hin, dass Teile der Antarktis einst von Eukalyptuswäldern und marsupialischer Tierwelt bedeckt waren. Damit bietet sich die einmalige Chance, vergangene Klimazustände der Erde zu rekonstruieren und daraus Rückschlüsse auf die Zukunft zu ziehen.
Wissenschaftler fordern daher dringend Bohrungen in den neu entdeckten Regionen. Nur durch direkte Proben aus Gestein, Sediment und Wasser lassen sich Alter, Zusammensetzung und klimatische Veränderungen exakt bestimmen.
Warum diese Entdeckung für Klimamodelle entscheidend ist
Die Entdeckung der verborgenen Landschaften liefert neue Parameter für Klimamodelle. Sie zeigen nicht nur, wie sich Eisströme entwickeln könnten, sondern helfen auch dabei, potenzielle Kipppunkte besser zu erkennen. Ein vollständiges Abschmelzen des ostantarktischen Eisschildes würde den Meeresspiegel weltweit um bis zu 52 Meter anheben – das Risiko ist zwar gering, aber existent.
Modelle, die die subglaziale Hydrologie berücksichtigen, deuten auf einen zusätzlichen Meeresspiegelanstieg von bis zu 2,2 Metern bis zum Jahr 2300 hin, wenn unterirdische Wasserflüsse stärker ins Rutschen geraten. Das zeigt, wie wichtig die Integration dieser Daten in zukünftige Risikoanalysen ist.
Wie viele solcher Landschaften gibt es noch zu entdecken?
Obwohl die aktuelle Entdeckung spektakulär ist, vermuten Experten, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist – im wahrsten Sinne des Wortes. Zahlreiche weitere subglaziale Regionen wie das Aurora Subglacial Basin oder die Bentley Subglacial Trench wurden bereits kartografisch erfasst, aber noch nicht wissenschaftlich untersucht. In vielen dieser Regionen könnte es ähnliche Landschaftsformationen oder sogar Lebensformen geben.
Ein weiteres Phänomen ist die sogenannte „Blood Falls“ – eine rot gefärbte Schmelzwasserquelle in den McMurdo Dry Valleys, die eisenreiche Salzlösung an die Oberfläche bringt. Auch hier wurden Mikroorganismen entdeckt, die unter extremsten Bedingungen überleben können – ein Indikator für die biologische Aktivität unter dem Eis.
Was bleibt zu tun?
Die Forschung am verborgenen Untergrund der Antarktis steckt noch in den Anfängen. Fortschritte in Radartechnologie, Satellitenvermessung und Bohrtechnik eröffnen neue Möglichkeiten, diese Welt zu erschließen. Die internationale Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen aus Europa, China und den USA ist ein zentraler Baustein.
Umfassende Bohrprojekte, langfristige Messreihen und die Integration der Daten in Klimamodelle sind die nächsten Schritte. Die Herausforderung besteht darin, dies unter extremen Bedingungen durchzuführen – bei Temperaturen von bis zu minus 50 Grad und instabilen Wetterlagen.
Eine Welt aus der Vergangenheit – für die Zukunft
Die Entdeckung uralter Landschaften unter dem Eis der Antarktis ist mehr als eine geologische Sensation. Sie ist ein Blick in eine vergessene Welt, ein Zeugnis des Lebens unter extremen Bedingungen und ein Warnsignal für die Zukunft. Denn was unter dem Eis verborgen liegt, hat Einfluss auf das Schicksal ganzer Küstenregionen, auf Meeresspiegel und Klima – und letztlich auf uns alle.
Während Forscher weiter daran arbeiten, die Geheimnisse der Antarktis zu entschlüsseln, steht eines fest: Unter dem Eis liegt nicht nur das Gedächtnis der Erde – sondern vielleicht auch der Schlüssel zu ihrem Schutz.